Dienstag, 24. August 2010

Schöner Pendeln

Schöner pendeln? So fahren Sie besser
Von Bänz Friedli. Aktualisiert um 10:13 Uhr Wie Sie im Gedränge einen Sitz ergattern, Ihren Coolnessfaktor erhöhen und andere Tipps.


Regel 1: Seien Sie – obgleich die Bahn es nie ist – pünktlich

Pendlerregel Nummer eins, aufgestellt vor mehr als zehn Jahren, hat unvermindert Gültigkeit: «Die S-Bahn ist immer unpünktlich, ausser du bist es.» Will heissen: Sie können rechtzeitig auf dem Perron stehen, es kommen alle Züge, nur Ihrer nicht. Sind Sie aber einmal im Jahr knapp dran, hetzen zu Fuss aus dem Haus, weil Ihnen das Velo geklaut wurde, verfluchen den Regen (und die Frisur: sie mit Gel zu drapieren, hätten Sie sich sparen können; sie ist nach 200 Metern im Eimer), verfallen in leichtes Joggen, dann in Trab, nehmen die Unterführung im Spurt und keuchen entnervt die Treppe hoch – dann können Sie sicher sein, dass die S-Bahn für einmal pünktlich abgefahren ist. Ohne Sie.

Regel 2: Seien Sie altmodisch! Nehmen Sie eine Thermosflasche mit!

Die good old Wärmeflasche aus Edelstahl daheim mit dem Getränk Ihrer Wahl zu füllen (es darf dann ruhig Nieren-Blasen-Tee sein), mag Ihnen bünzlig erscheinen, aber es ist zweckmässig. Denn wenn Sie den Kafi noch rasch am Bahnhof besorgen wollen, kramt bestimmt eine Rentnerin vor Ihnen umständlich im Münz, und Sie müssen ohne Kafi losfahren. Ergattern Sie dennoch einen Pappbecher, verschütten Sie ihn garantiert beim Einsteigen, weil der Plastikdeckel nicht recht sitzt, und sollte es gar gelingen, ihn bis zum Platz zu balancieren, ist dieser Platz inzwischen besetzt, weil Sie so langsam balancieren mussten; ausserdem ist der Kafi bereits erkaltet – dabei wäre er schon warm untrinkbar. (Es gibt eine, aber landesweit wirklich nur eine Ausnahme: Am Bahnhof Liestal serviert ein charmanter Halbglatzkopf in der «Caffeteria Pasticceria L’Angolo Dolce» den besten Cappuccino, den Sie Ihrer Lebtag getrunken haben, sì, Signori! Auf Wunsch auch in Pappbechern. Aber wer pendelt schon von Liestal aus?) Für alle anderen gilt: Die Edelstahlflasche ist gut verschliessbar, hält I hr Getränk warm und spart Geld. Schliesslich wird das Bahnfahren teurer, da muss man aufs Budget achten.

Regel 3: Seien Sie skrupellos!

Wer im öffentlichen Verkehr zaudert, hat schon verloren: seinen Sitzplatz. In den nächsten sechs Jahren, rechnet der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV), wird die Zahl der Fahrgäste um 25 Prozent steigen. Doch weil ein Ausbau des Angebots aus Spargründen nicht drinliegt, wirds im Nahverkehr künftig noch enger, stickiger, unangenehmer. Wer da wenigstens noch sitzen will, muss lauern, ehe Tram, Bus oder Zug halten. Und zwar seitlich neben dem Eingang. Stellen Sie sich nie frontal vor die Türe des Gefährts! Dort ergibt sich aus dem Schwall der Aussteigenden und der Gruppe an Wartenden eine solche Blockade, dass Sie in der Zwischenzeit hurtig seitlich reinschlüpfen und sich einen Platz ergattern können.

Gewiefte Pendler wissen, wo auf dem Perron sie stehen müssen, um beste Chancen aufs Hineinschlüpfen zu haben; s ie merken sich die Stelle – Güselkübel, vis-à-vis H&M-Plakat –, lassen sich ihre Absicht aber nicht anmerken, sondern begeben sich erst im allerletzten Moment dorthin. Ist es dann so weit, gilt es, egoistisch zu sein. Gewähren Sie niemandem den Vortritt! Ältere Menschen? Sind selber schuld, wenn sie zur Stosszeit unterwegs sind. Väter mit Kinderwagen genauso. Und Aussteigende, die zu spät daran gedacht haben, dass sie aussteigen wollen, gehören ohnehin weggewuchtet.

Seien Sie im Übrigen besonders rücksichtslos gegenüber denjenigen, die nur zweimal im Jahr den ÖV benutzen: wenn der BMW im Service ist und beim ersten Schnee (weil am BMW die Winterpneus noch nicht montiert sind). Das sind dann die, die blöd fragen, ob da noch frei sei, dabei ist unter wahren ÖV-Pendlern stillschweigend ausgemacht, dass immer frei ist, wenn frei ist. Sagen Sie deshalb extra «Nein!», sonst müssen Sie sich während der ganzen Fahrt das Gemotze anhören, wie sauteuer die Eisenbahn doch sei – diese Löli haben nämlich kein Halbtax.

Regel 4: Wählen Sie die richtige Klasse!

Dazu ist Selbsterkenntnis nötig. Was nervt mich mehr? Die Senior Vice Presidents in der 1. Klasse, die von Winterthur bis Freiburg überlaut telefonieren (weil sie sich pausenlos versichern müssen, gaaaanz wichtige Senior Vice Presidents zu sein): «Sii, Fröläin Tschudi, tüend s mer no gschnäll d Pauerpointtpräsi für Tokio durebiime! Und de Löntsch händ Sii gkänssled?» Oder doch eher die Rüpeljugend in der 2. Klasse? «Ey, Monn, muesch mir nöd afigge!»

Falls Sie sich für die 1. Klasse entschieden haben, sollten Sie die Wahl während der Session vielleicht überdenken. Dann sind die Damen und Herren Parlamentarier massiert unterwegs, und wer einem gewissen Ständerat nicht zuschauen mag, wie er umständlichst seinen Ledermantel auszieht, und zwar so laaangsam, bis auch bestimmt der ganze Waggon ihn, den schampar berühmten Präv entivmediziner, zur Kenntnis genommen hat, der flüchte temporär zu den Rüpeljugendlichen in die 2. Klasse, Monn!

Regel 5: Oder verhalten Sie sich am besten antizyklisch!

Pendeln Sie zu Unzeiten! Suchen Sie sich einen Job in der Agglo und pendeln Sie gegen den Strom! Geniessen Sie morgens die Ruhe in der S3 stadtauswärts, legen Sie die Füsse auf die gegenüberliegende freie Sitzbank (die Sie, hygienehalber, davor mit einem Abendblatt vom Vortag ausgelegt haben) und erhaschen Sie, wenn Ihr Zug in Altstetten die S3 in Gegenrichtung kreuzt, einen Blick auf deren überfüllte Reihen.

Regel 6: Reisen Sie immer im passenden Waggon!

Gehen Sie nie ohne Kinder in den Familien-, nie mit Kindern in den Businesswagen! Das ist ein Befehl. Wer meint, das AHV-Alter berechtige ihn, den René, den Franz und den Heiri zur munteren Jassrunde im Ruhewagen (mitsamt einem Halbeli Fendant) zu treffen, der irrt. Leider immer wieder.

Regel 7: Seie n Sie stark! Es könnte noch schlimmer sein.

Klar, schweisselt der Fettsack nebenan; klar, nervt der Nasengepiercte mit seinem Nz-nz-nz-Sound; klar, widert der Geruch des Döners Sie an, den ein Gör im Abteil vor Ihnen verzehrt (und das um diese Zeit!). Aber bedenken Sie: Im Stau auf der Strasse wärs noch ärger, und man könnte nicht mal, wie Sie es gerade tun, Zeitung lesen. (Von den Taxifahrern ganz zu schweigen. Die kennen die Stadt nicht und maulen noch frech, wenn man in ihrem Wagen ein Gipfeli essen will.)

Regel 8: Tragen Sie Ohrstöpsel. Am besten weisse.

Diese könnten zu einem iPod oder iPhone gehören und erhöhen den Coolnessfaktor. Und wenn Sie dazu leise mit dem Kopf nicken, hält man Sie trotz Krawatte für einen Hip-Hopper (denn es merkt ja keiner, dass Ihr iPod gerade einen uralten Schepperblues von Furry Lewis aus dem Jahr 1927 spielt). Noch besser ist, wenn auf Ihren Kopfhörerchen gar nichts läuft, weil der Stecker lose i n Ihrem Mantelsack verschwindet. Die Attrappe dämpft den Lärm rundum zum meditativen Rauschen und erspart Ihnen, von irgendeinem munteren Morgenmenschen angequatscht zu werden. Besonders schützt sie vor dem Nachbarn, der leider immer gleichzeitig aus dem Haus muss wie Sie und dessen Prahlstorys («Hey, Maledive im Fall, soooo häiss! Und nöd emal so tüür!») Sie auswendig kennen. Als Pendler dürfen Sie übrigens beim Aussteigen jederzeit notlügen: «Eh, sali Röbi! Han dich gar nöd gseh ischtiige …»

Ratsam ist, mit fixen Pendlerpartnern, allesamt Morgenmuffel wie Sie, einen Nichtangriffspakt zu schliessen: Man lässt sich in Ruhe. Abends auf dem Heimweg sowieso, denn das ist die kurze heilige Zeit zwischen Bürostress und lärmigem Familienleben, das zu Hause auf Sie wartet.

Regel 9: Mischen Sie sich auf keinen Fall ein!

Stellen Sie sich vor, in einem als Vorortszug getarnten Aargauer Überlandtram fingert eine stark Gepuderte mit sehr l angem, sehr schwarzem Haar an ihrem Handy rum. Weisse Schnürstiefel bis über die Knie trägt sie, umso kürzer ist dafür das hautenge Kleidchen. Sie spielt ihrer ähnlich aufgemachten Freundin irgendeinen dieser öden DJs vor – Da-Nos, Antoine oder wie die alle heissen –, und zwar so laut das Mobiltelefönchen es hergibt. Worauf der ältere Herr im Abteil ennet dem Gang murmelt: «Unanständig.» Bald noch mal, deutlicher: «Unanständig!» Dann, an die Frauen gewandt: «Stellt diesen Lärm ab!» Worauf die mit den Schnürstiefeln noch lauter aufdreht. Er: «Abstellä dee huere Lärm!» Sie: «Isch kän Lärm, Monn.» Er: «Saupack.» Sie: «Ey, wass häsch gseit, Monn?» Und zu ihrer Freundin: «Eymonn, wänn ich wott, isch är jetz tot!» Hinter Ihnen raunt ein Schmuddeliger mit Prix-Garantie-Bier: «Die Tussä isch nöd ganz putzt.» Sein Kumpan erwidert: «Aber dr Alt isch en Vollfascho.» Und Sie denken bei sich: Mist, irgendwie haben beide recht.

Regel 10: Ziehen Sie dorthin, wo Sie arbeiten.

Bis 2030, haben SBB und Bundesamt für Verkehr errechnet, soll sich der öffentliche Verkehr auf gewissen Strecken verdoppeln. Soll er das? Immer mehr, immer schneller? Siebeneinhalbminutentakt zwischen Zürich und Bern? Oder sollten Sie sich überlegen, in die Stadt zu ziehen, in der Sie arbeiten?

Am besten machen Sies wie ich: Ich pendle längst nicht mehr, und während Sie eben versuchen, Ihren Tagi auseinanderzufalten, eingepfercht zwischen Wildfremden, von denen einer Hundekot am Schuh hat und es nicht merkt, bereite ich mir gerade im Pyjama die erste Teetasse zu.

* Bänz Friedli ist Hausmann und freier Autor in Zürich. Seine Pendlerbibel mit Kolumnen über den öffentlichen Verkehr ist soeben in erweiterter Neuauflage erschienen: «Ich pendle, also bin ich», Verlag Huber, Frauenfeld, 266 Seiten,353 Fotos, ca. 29.90 Fr. (Tages-Anzeiger)